Obwohl in Deutschland zahlreiche Synagogen unter Polizeischutz stehen und Studien eindrücklich zeigen, dass Jüdinnen und Juden regelmäßig Anfeindungen ausgesetzt sind, verbinden viele Deutsche Antisemitismus weiterhin vornehmlich mit dem Holocaust. Deshalb wurde in der vergangenen Plenumssitzung des AK Ruhr am 13. März 2019 bewusst Antisemitismus als aktuelles gesamtgesellschaftliches Problem thematisiert. Sophie Brüss von der Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit, Beratung bei Rassismus und Antisemitismus (SABRA) in Düsseldorf gab in ihrem gelungenen Vortrag einen Überblick über die Entstehung und die Formen von Antisemitismus. Die Erfahrungen aus der Antisemitismusarbeit und -beratung von SABRA ermöglichten einen besonderen Fokus auf die Perspektive der Betroffenen.
Obwohl Antisemitismus häufig mit Rechtsextremismus, Linksextremismus und zunehmend auch dem Islam in Verbindung gebracht wird, ist er in der gesamten Gesellschaft zu finden. Interessant ist, dass zwar Jüdinnen und Juden von Antisemitismus betroffen sind, dieser allerdings auch ohne Juden auskommt. Dies hängt damit zusammen, dass Antisemitismus als vereinfachtes Welterklärungsmodell dient: Statt komplexe globale Zusammenhänge zu betrachten, sind „die Juden“ an allem Schuld. Verschwörungstheorien, die ebenfalls Ereignisse vereinfachen und einen Sündenbock suchen, haben daher auch häufig einen antisemitischen Kern.
Wie bereits angedeutet ist Antisemitismus kein Phänomen der Vergangenheit. So äußerten in einer aktuellen Studie von Zick, Hövermann und Jensen (2017) 81% bis 91% der befragten Jüdinnen und Juden eine stark oder sehr stark empfundene Belastung durch Antisemitismus, 29% gaben Belästigungen oder Beleidigungen im vergangenen Jahr an und die Hälfte der Befragten zeigte sich besorgt vor weiteren Vorfällen. Diese Zahlen machen nicht nur betroffen, sondern zeigen deutlich: Wir haben ein Problem.
Antisemitismus ist aber nicht gleich Antisemitismus. Aus ursprünglich religiösem Anti-Judaismus, der sich Bildern wie dem Brunnenvergifter und Kindermörder bediente, wurde mit zunehmender Säkularisierung eine rassistisch begründete Feindlichkeit. Die Vorurteile und Unterstellungen blieben größtenteils erhalten, wurden aber nun mit vermeintlicher Wissenschaftlichkeit gerechtfertigt und führten bekannterweise zum Holocaust. Bis heute hält sich hartnäckig der Mythos, dass Juden zu viel Einfluss hätten, dass es eine Weltverschwörung des Judentums gäbe und dass Juden durch ihr Verhalten selbst an der Verfolgung schuld seien. Diese Vorurteile sind Merkmale des sogenannten primären Antisemitismus. Der sekundäre Antisemitismus geht einen Schritt weiter und unterstellt, Jüdinnen und Juden hätten durch die Aufarbeitung des Holocausts Vorteile erhalten (Täter-Opfer-Umkehr). Typisch sind hierfür die Relativierung des Holocausts und die Forderung nach einem „Schlussstrich unter die Vergangenheit“. Eine dritte und letzte Form ist der israelbezogene Antisemitismus. Dieser bezeichnet eine Übertragung antisemitischer Vorurteile auf den Staat Israel und geht deutlich über jegliche gerechtfertigte Kritik an Israel hinaus.
Antisemitismus ist ein jahrhundertealtes und komplexes Phänomen, das auch in der Sitzung des AK Ruhr nur grob angerissen werden konnte. Entscheidend ist aber, ihn als aktuelles Problem anzuerkennen, sich bewusst damit auseinanderzusetzen und eine klare Haltung zu zeigen.